Förderverein des NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Buchbesprechung

Gewerkschaften und Demokratie – Beiträge für eine neue Sichtweise

Wolfgang Uellenberg-van Dawen

Die Gefährdung der Demokratie in Deutschland ist unübersehbar. Sie zu verteidigen sehen die Gewerkschaften als ihre Aufgabe an. Aber wo sind die Gewerkschaften mit diesem Auftrag in der Öffentlichkeit, bei den politischen Akteuren, in der wissenschaftlichen Forschung wahrnehmbar?

In der Zeit der Blockkonfrontation hatte die Bedeutung der deutschen Arbeiterbewegung in der gesellschaftspolitischen Diskussion wie in der sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung einen hohen Stellenwert. Ordnungsfaktor oder Gegenmacht, Klassenverrat oder Reformkraft, Autonome Selbstorganisation oder Säule der sozialen Marktwirtschaft lauteten die Schlagworte und damit verbundenen Konfliktlinien der Debatte. Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ließen solche Kontroversen, aber auch das Forschungsinteresse an den Gewerkschaften deutlich nach.[1]

2014 versammelte der gesellschaftspolitisch sensible und historisch interessierte DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung ältere und jüngere Historiker*innen und Vertreter*innen der Gewerkschaften in einem Gesprächskreis, um der historischen Forschung wieder einen Ort im gewerkschaftlichen und im wissenschaftlichen Diskurs zu geben. Aus diesem Kreis, dem der Autor dieser Rezension bis 2017 angehörte, entstand die Kommission „Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“, angesiedelt im Haus der Geschichte des Ruhrgebietes in Bochum. Ihr gehörten zum einen etablierte Historiker der Gewerkschaften wie Michael Schneider, Werner Milet, Rudolf Tschirbs und Detlev Brunner an, zum anderen Historiker*innen, die aus der Sicht neuerer Forschung vor allem auf die Themen blicken, die in der traditionellen Gewerkschaftsorganisation wie in der Forschung eher zu wenig beachtet werden: Frauen, Migrant*innen, neue soziale Bewegungen, Europa und die DDR-Transformation.

Herausgekommen ist ein Sammelband von 28 Beiträgen, geordnet in 11 Kapiteln. Das für den Schnelllesenden Wesentliche findet sich in der Einleitung der Herausgeber, die die beiden Leitgedanken der Arbeit erläutern: die soziale Demokratie in der Bundesrepublik und die Erinnerungskultur als Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses. Es geht um beides: Zum einen um eine Verortung der Bedeutung der sozialen Demokratie in der Demokratie der Bundesrepublik, deren Grundgesetz sie als Sozialstaat definiert und die, so die Position der Autoren, nur Bestand hat, wenn seine Bürger*innen durch ihn soziale Rechte neben den politischen Beteiligungs- und den liberalen Freiheitsrechten verwirklichen können. Zum anderen wird die Bedeutung und Realisierung dieser Rechte durch die Gewerkschaften unter dem erinnerungswissenschaftlichen Blick dargestellt und diskutiert. Es handelt sich daher nicht um eine Neuauflage der organisationsbezogenen Gewerkschaftsgeschichte in 28 Beiträgen, sondern um die Reflexion von Aspekten der Gewerkschaftsgeschichte unter der Fragestellung, inwiefern sie erinnert oder auch nicht erinnert werden und wurden und worin ihr Betrag zur Demokratisierung der Arbeitswelt und der Gesellschaft liegen kann. Diese Frage richtet sich an die eigene Geschichtsschreibung der Gewerkschaften, was in ihr hervorgehoben oder zu wenig und gar nicht bearbeitet wurde, und auf die Fremdgeschichtsschreibung über die Gewerkschaften, inwieweit und wo überhaupt diese erforscht und dargestellt wurden.

Das Buch gliedert sich in methodische und konzeptionelle Vorüberlegungen zu den Themen demokratischer Sozialismus und soziale Demokratie, einen Überblick über Erinnerungskulturen und eine Recherche der zweifelsohne äußerst randständigen Darstellung von Sozialstaat und Gewerkschaften in deutschen Museen. Ihnen folgen die thematisch geordneten Kapitel Gleichheit, Gleichstellung der Geschlechter, Migration, Sozialversicherung, Gewerkschaften, Arbeitskämpfe und Tarifpolitik, Mitbestimmung, Europa, neue soziale Bewegungen und DDR-Transformation mit zwei bis drei Beiträgen. Den Abschluss bilden Empfehlungen der Kommission zur Weiterentwicklung der Erinnerungskulturen in den Gewerkschaften als Möglichkeit einer Identifikation der Mitglieder, zur Ambivalenz ihrer Erzählungen und Potenziale, zur Verbesserung der medialen Aufmerksamkeit und darüber hinaus zu Schwerpunkten der Erinnerungskultur und -politik in der sozialen Demokratie wie Mitbestimmung, Erfolge der Tarifpolitik, Transformationszeit in Ostdeutschland, Wandel der Arbeitswelt und Ökologie. Sie enden mit praktischen Vorschlägen wie der Pflege des Portals www.gewerkschaftsgeschichte.de die Einbindung gewerkschaftlicher Erinnerungskulturen in neue Medien, die Gründung eines Arbeitskreises gewerkschaftliche Erinnerungspolitik, die Förderung regionaler Erinnerungsorte, an denen Kämpfe für soziale Rechte stattfanden und ein Pilotprojekt Route der Mitbestimmung.

Warum lohnt es sich dieses Buch, das über die Bundeszentrale für politische Bildung für 4,50 Euro bestellt werden kann, in die Hand zu nehmen?

Das ist zum einen der Zugang zu dem Thema, das sich in der Wissenschaft und schon länger in der gesellschaftspolitischen Diskussion in den Vordergrund drängt: das Erinnern.

Erinnern in der deutschen Öffentlichkeit bezieht sich vor allem seit der Wiedervereinigung auf die Verbrechen des NS-Regimes: die Shoah, die Verfolgung und Ermordung aller Menschen, die in der Ideologie des Regimes rassistisch und antisemitisch sowie als „unwertes Leben2 gelesen wurden. Die Erinnerung an diese menschenverachtende Ideologie und ihre Opfer steht heute in den Auseinandersetzungen mit Rechtsextremisten, Rassisten und Neonazis oder mit der alt-neuen intellektuellen Rechten im Mittelpunkt.[2]

Was Erinnerungskultur darüber hinaus leisten kann, erläutert Jenny Wüstenberg, Professorin für Public History an der Nottingham Trent University in ihrem Beitrag: Erinnerungskultur als Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses werde konstruiert durch eine vielfältige Praxis von Ritualen des Trauerns, des Gedenkens, von prominent platzierten Erzählungen, von Gründungsmythen, Ausstellungen in Museen und medialen Darstellungen, auch in Schulbüchern, in Geschichtsschreibung und öffentlichen Meinungsäußerungen.[3] Erinnerungskulturen haben, so Wüstenberg, eine „legitimierende Funktion für die Gesellschaftsordnung“.[4] Zu unterscheiden seien aus vielfältigen Quellen gespeiste und von vielen Akteuren gestaltete Erinnerungskulturen von einer offiziellen oder offiziösen Erinnerungspolitik. Erinnerungspolitik auch als Geschichtspolitik werde als eine „Machterhaltungsstrategie und als manipulatives und manchmal antidemokratisches Instrument verstanden“[5] Ihr Fokus liege auf den Eliten und sie werde meist von Angehörigen der Eliten in Politik, Medien und Wissenschaft bestimmt.

Wesentlich für die Bildung einer kollektiven Identität von Organisationen, Parteien, Bürgervereinen, kurz: von allen Gemeinschaften, in denen Menschen miteinander reden und handeln, ist jedoch das kollektive und das kommunikative Gedächtnis. Die in ihnen erzählten Geschichten formen eine Erinnerungsgemeinschaft, die sich von anderen dadurch abgrenzt und ihre Werte, ihre Positionen, ihre Rituale, ihr Handeln in der Gegenwart dadurch legitimiert.

Die Kommission Erinnerungskultur postuliert: „Streit um die Erinnerung gehört konstitutiv zur politischen Demokratie. […] Gesellschaftliche Anerkennung erfolgt über Erinnerungsdiskurse, weshalb Erinnerung für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppierungen eine wichtige Ressource im politischen Kampf darstellt“.[6]

Dies erinnerungspolitisch deutlich sichtbar zu machen, ist, so der Sozialwissenschaftler Manfred Wannöffel und der Historiker Ulrich Heinemann, dringend notwendig, denn die Erinnerungskultur, in deren Zentrum die kritische Auseinandersetzung mit dem Holocaust und den Verbrechen des Nationalsozialismus stand und steht, „droht schon seit Längerem zu einem staatstragenden Ritual zu versteinern. Der zivilreligiös aufgeladene Menschenrechtstopos, getragen nicht zuletzt von vielen jüngeren Menschen, steht seit einigen Jahren unter dem Verdikt einer kulturellen Hegemonie linken Denkens sowie ‚repressiv-toleranter‘ Political-Correctness. Rechtspopulistisches, teils rechtsintellektuell unterfüttertes Gedankengut gewinnt dagegen auch in Deutschland in breiteren Bevölkerungskreisen an Boden“.[7] Ihr Anspruch ist es, die Erinnerungskultur in demokratischen Sinnen durch den Rückgriff auf den demokratischen Sozialismus bzw. die soziale Demokratie neu zu beleben. Verfolgte die Arbeiterbewegung über Jahrzehnte hinweg das Ziel der Transformation der bürgerlichen Gesellschaft in eine demokratisch-sozialistische, so trat vor allem nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus das Leitbild der sozialen Demokratie in den Vordergrund. Diese mehr in der SPD zu verortende Zielsetzung bedarf auch in den Gewerkschaften angesichts der Krisen und der Gefährdung der Demokratie in der Gegenwart einer erweiterten und wirksamen Erzählung, die alle Aspekte des Sozialen – von der Transformation der Arbeit bis zur Gesundheits- und Sozialpolitik – einschließt. „Im Kontext dieser Reorganisation von Arbeit und Wirtschaft sind die sozialen, zivilen und politischen Freiheitsrechte immer wieder in sozialen Konflikten zu erkämpfen und dem nach Expansion strebenden marktwirtschaftlichen System in harten Kämpfen abzuringen. An diese kontinuierliche Anstrengung ist stets neu zu erinnern“[8].  Dabei müssen sie auch öffentlich an die verbundenen Konflikte zwischen Kapital und Arbeit, Arbeitgebern und Gewerkschaften, konservativ-liberaler und sozialer Politik erinnern. Sie müssen vermeiden, sich, wie es seit einigen Jahren üblich geworden ist, als Teil der sozialen Marktwirtschaft loben und ihre Erfolge von ihren früheren Gegnern vereinnahmen zu lassen. Zur Erzählung der Gewerkschaften gehören soziale Kämpfe, sollen sie auch als wirksame Akteure gegenüber den Arbeitnehmer*innen, ihren potenziellen Mitgliedern, erkennbar sein. Ein kritischer Blick auf die eigene Geschichte gehört jedoch dazu. Denn auch diese, das kollektive Gedächtnis bestimmenden Erzählungen können Widersprüche und Brüche übertünchen und verdecken. Eine kritische Erinnerungskultur muss daher immer wieder diese Widersprüche und verdrängten Probleme herausarbeiten.

Fazit: Der DGB und die Gewerkschaften wollten einen neuen Ansatz wählen, um Gewerkschaftsgeschichte in ihrer Breite unter dem Gesichtspunkt des Erinnerns wieder sichtbar zu machen. Nicht nur weil Erinnerungswissenschaften heute aktuell sind, sondern vor allem, weil Gewerkschaften tatsächlich im Bewusstsein der Öffentlichkeit und vieler ihrer Mitglieder, Anhänger und Gegner in ihren Erzählungen präsent sind und danach beurteilt werden. Kritisch anzumerken bleibt, dass viele Autor*innen ihren Beitrag mit ihrer Definition von Erinnerungskultur beginnen und dies nicht zur Übersichtlichkeit und Klärung beiträgt. Auffällig ist die Aussparung der Dienstleistungen bzw. der Geschichte der Dienstleistungsgewerkschaften. Dabei bleibt doch der ÖTV-Streik 1974, der – so die Erzählung – Willy Brandts Rücktritt beschleunigte, ein Merkposten im kollektiven Gedächtnis. Nicht überzeugend ist indes der Versuch, die dem Holocaustgedenken gewidmete Erinnerungskultur als ritualisiert, erstarrt und weitgehend nur für die Überzeugten zu relativieren[9] und durch einen demokratisch-sozialistischen erinnerungspolitischen Ansatz zu ersetzen. Rechtsextrem eingestellte Beschäftigte, Rassisten in den Betrieben lassen sich von den Idealen der sozialen Demokratie und noch so gut organisierten Streiks nicht überzeugen. Im Gegenteil. Um die Einheit in der Aktion zu wahren, besteht die Gefahr, dass Kontroversen um Menschenrechte, wie das Asylrecht, oder die Bewertung der NS-Verbrechen von Betriebsräten oder Gewerkschaftsfunktionären möglichst vermieden werden. Sie verkennen, dass sich Sozialstaat und soziale Demokratie nur auf der Basis der Menschenrechte, auf der Anerkennung der Würde aller Menschen und ihrem Anspruch auf Gleichbehandlung überhaupt sinnvoll begründen lassen.

Stefan Berger/Wolfgang Jäger/Ulf Teichmann (Hg.)

Gewerkschaften im Gedächtnis der Demokratie.
Welche Rollen spielen soziale Kämpfe in der Erinnerungskultur?
Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Bd. 197
transcript Verlag, Bielefeld 2022
654 Seiten, Preis: 45,00 €
ISBN: 978-3-8394-5380-3

[1] Einen guten Überblick gibt Michael Schneider: Traditionspflege – Selbstkritische Aufarbeitung – Diskursfähigkeit Zur Entwicklung der gewerkschaftlichen Erinnerungskultur in der Bundesrepublik Deutschland in: Berger/Jäger/Teichmann, Gewerkschaften, S. 297–314.
[2] Meron Mendel: Vergleichbar einzigartig. Die Erinnerungskultur und ihre Kritiker, in: Ders.: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte, Köln 2023, S. 149–180, hier: S. 149f.
[3] Jenny Wüstenberg, Erinnerungskulturen zwischen Traditionspflege und Konflikt. Ansätze in Memory Studies, in: Berger/Jäger/Teichmann, Gewerkschaften, S. 43–56, hier: S. 48f.
[4] Ebd, S. 13 – 40.
[5] Ebd., S. 35.
[6] Stefan Berger/Wolfgang Jäger/Ulf Teichmann: Erinnerungsgeschichte sozialer Demokratie, in: Dies., Gewerkschaften, S. 13–40, hier: S. 25.
[7] Ulrich Heinemann/Manfred Wannöffel: Soziale Demokratie. Begriff, Elemente, Entwicklung und ihre Bedeutung für die Erinnerungskultur in Zeiten tiefer gesellschaftlicher Transformationsprozesse, in: Berger/Jäger/Teichmann, Gewerkschaften, S. 57–74 , hier: S. 67f.
[8] Ebd., S. 72.
[9][9] Ulrich Heinemann, Manfred Wannöffel, Erinnerungskultur S. 68f.