Förderverein des NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Faye Cukier gestorben

Erinnerung an eine lebensfrohe Zeitzeugin
von Werner Jung

Am 23. Januar 2023 ist Faye Cukier gestorben. Sie wurde zwei Tage später auf dem Jüdischen Friedhof in Bocklemünd nach einer beeindruckenden Trauerfeier im Grab ihrer Eltern beigesetzt. Noch am 15. Juni des letzten Jahres konnte sie im Jüdischen Elternheim, in dem sie seit 2020 lebte, ihren 100. Geburtstag feiern. Tochter, Enkel und Urenkel waren aus den Vereinigten Staaten angereist, Freundinnen und Freunde aus Köln und anderen Städten trotz der Corona-Beschränkungen anwesend.

Faye hatte in jungen Jahren ein ungemein hartes Leben überstanden, das viele, die sie aus der späteren Zeit kannten, gar nicht mit der lebenslustigen Person in Verbindung bringen konnten. Sie hat nämlich ihre Eltern und sich selbst vor der Deportation und Ermordung retten können.

Faye Cukier wurde als Fanni Cukrowski in Köln im St. Anna-Hospital in Köln-Lindenthal geboren. Sie war das einzige Kind jüdischer Eltern, die Anfang des letzten Jahrhunderts aus Polen nach Deutschland ausgewandert waren. Die Familie musste als Staatenlose in Deutschland leben. Doch der Vater betrieb in Köln-Mülheim einen gut gehenden Metallgroßhandel, der der Familie ein Leben im Wohlstand ermöglichte. Faye liebte ihre Heimatstadt, den Rhein, den Dom, die kölnische Mundart. Alles schien für eine glückliche Kindheit und Jugend eingerichtet zu sein. 1930 ließ die Familie ihren Namen durch Gerichtsbeschluss in Cukier ändern.

Doch die Machtübernahme der Nationalsozialisten veränderte alles. Auch die junge Faye erlebte nun den wachsenden Antisemitismus. Nach einem Angriff von Jugendlichen auf sie entschloss sich die Familie, Deutschland zu verlassen. Gerade noch rechtzeitig – nur wenige Wochen vor der Zwangsausweisung polnischer Juden aus Deutschland (“Polenaktion”). Mutter und Tochter gingen im September 1938 nach Belgien. Der Vater folgte, nachdem er geschäftliche Dinge in Köln geregelt hatte.

Faye Cukier (rechts) mit ihren Eltern in Brüssel, Frühjahr 1945 (Fotograf: unbekannt)

Der Familie gelang sechs Jahre lang auf abenteuerliche Weise die Flucht, sei es in Antwerpen, Brüssel, Limburg oder Dünkirchen. Eltern und Tochter überlebten – anders als viele ihrer Freunde und Bekannte. Ich fragte sie einmal auf einer der vielen Veranstaltungen, die wir in den letzten Jahrzehnten durchgeführt haben, ob sie immer daran geglaubt habe, dass sie und ihre Eltern gerettet würden. Die Antwort war angesichts der vielen auf der Flucht erlebten Schrecken ein durchaus überraschendes entschiedenes “Ja!” – Nie hätte sie daran einen Zweifel gehabt. Es war Faye, die das Überleben der Familie ermöglichte. Sie, die Sprachbegabte, wurde vorgeschickt, um bei Behörden vorzusprechen. Im Diamantenhandel verdiente sie den Lebensunterhalt für die Familie. Dank ihrer unglaublichen Courage, mit Selbstvertrauen und sicherlich auch viel Glück konnte die Familie überleben. Nach Kriegsende kehrte Faye mit ihren Eltern nach Köln zurück.

Nach kurzer Zeit ging sie dort hin, wohin sie schon in der Zeit ihrer Flucht immer wieder vergeblich versucht hatte, auszuwandern: die Vereinigten Staaten. Dort nahm sie den Vornamen Faye an, da “fanny” im Englischen eine unschöne Bedeutung hat. Sie arbeitete als Schauspielerin und Model. Die ersehnte große Hollywoodkarriere blieb jedoch aus; über kleinere Rollen in drittklassigen Filmen kam es nicht hinaus. “Hollywood” blieb bis in die letzten Lebensjahre immer wieder Gesprächsthema.

Faye Cukier als Mata Hari, New York um 1950 (Fotograf: Ed Lowy)

Wenn irgendjemand ein Foto von ihr machen wollte, setzte sie sich in Pose und gab mit einem Schuss Selbstironie die kleine Diva. Seit 1968 besuchte Faye regelmäßig ihre alte Heimatstadt und pendelte zunächst zwischen Köln und Philadelphia hin und her. In den letzten Jahren blieb sie vor allem in Köln. Für Familie und Freunde in den USA war es unverständlich, was sie mit dem Land der Peiniger so intensiv verband. Für Faye war es ganz einfach: Köln war ihre Heimatstadt und vor allen Dingen gab es hier im Unterschied zu dem drögen Philadelphia, das kaum Cafés oder Gaststätten, geschweige denn Kulturveranstaltungen oder ein Nachtleben hatte, all das, was sie brauchte: die Geselligkeit unter allen möglichen Leuten. 1997 habe ich sie in Philadelphia besucht. Sie fuhr uns in einem offenen roten Cabrio durch die Stadt. Es war klar, dass diese Stadt nicht den Boden bilden konnte, den Faye für ihre Entfaltung benötigte – wenn man vom Swimmingpool in ihrem Haus mal absah.

So gesehen stürzte sich Faye in Köln ins Getümmel und wurde bald bekannt. Man braucht ihren Namen nur zu erwähnen, dann stellt sich bei jenen, die sie mal gesehen haben, ein Lächeln ein.

Bei der Eröffnung der Sonderausstellung „Kunst und Gedenken“ am 17. März 2011 im EL-DE-Haus (Foto: Fikentscher)

Faye war ohne Frage eine imposante Persönlichkeit. Dort, wo sie hinkam, fiel sie auf, und sie wollte auch auffallen. Sie liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Diese kleine, zierliche Person war stets schick und modern gekleidet. Fragen nach ihrem Alter verstand sie sehr lange Zeit kokett zu umschiffen. Sie strahlte voller Lebenslust und Fröhlichkeit und war den unterschiedlichsten Menschen offen zugewandt. Sie sprach sieben Sprachen, das Kölnische gar nicht mitgezählt. Als sie 2020 ins Jüdische Elternheim kam, meinte sie zu mir, jetzt werde sie noch russisch lernen, weil viele der Heimbewohner nur russisch sprechen würden. Sie war polyglott und zu allen Menschen und Kulturen aufgeschlossen. Standesdünkel kannte sie nicht. Das Gespräch mit dem Mann an der Kasse war genau so freundlich und charmant wie das mit offiziellen Vertretern.

Dementsprechend war ihr Terminkalender für jeden Tag prall gefüllt. Besuche von kulturellen Veranstaltungen wechselten sich ab mit privaten Treffen in ihrem großen Freundes- und Bekanntenkreis. Am liebsten hatte sie es, in geselliger Runde die Nacht zum Tag zu machen. Dann ließ sie sich auch nicht zweimal bitten, ihren legendären Bauchtanz vorzuführen. Ein gelungener Abend war selten vor zwei Uhr in der Nacht zu Ende. Sie leide an der “Amüsierkrankheit” hatte bereits ihr Vater spaßeshalber zu seiner heranwachsenden Tochter gesagt. Jedenfalls an Ausdauer und Lebensfreude hat sie sich von niemanden übertreffen lassen.

Dennoch mangelte es ihr nicht an Ernsthaftigkeit und Engagement. An die schreckliche Verfolgung in der NS-Zeit wollte sie stets erinnern. Faye hat das NS-Dokumentationszentrum über Jahrzehnte begleitet, mit vielen Kolleginnen und Kollegen und nicht zuletzt mit mir freundschaftlich verbunden. Kaum jemand hat so viele Veranstaltungen im NS-DOK besucht wie Faye. Eröffnungen von Ausstellungen, Vorträge, Diskussionen. Sie war Stammgast und für sie war stets in der ersten Reihe ein Platz reserviert.

Faye Cukier mit Werner Jung bei einer Veranstaltung im Domforum am 10. November 2010 (Foto: Anneliese Fikentscher / arbeiterfotografie.com)

Als Ergebnisse unserer Zusammenarbeit seien genannt:

  • Das Buch: Jahrelang schleppte sie das amerikanischsprachige Manuskript ihrer Erinnerungen von über 800 Seiten (den “Zentner”, wie sie es sagte) mit sich herum. Sie erhielt Absage auf Absage von deutschen Verlagen. 2006 erschien das Buch in den USA. 2011 entschied ich mich, diesem Elend ein Ende zu machen und zusammen mit Faye ihr Buch in der Schriftenreihe des NS-DOK herauszugeben. Es folgte eine Zeit intensiver Zusammenarbeit. Bewundernswert war das exakte Gedächtnis der damals bald Neunzigjährigen. Über fünf, sechs Stunden dauerten die einzelnen Sitzungen; sie war unermüdlich, während sich bei mir doch leichte Ermüdungserscheinungen einstellten, hieß es von ihr nur: “Wo gehen wir denn jetzt hin?” 2012 erschien ihr Buch “Flucht vor dem Hakenkreuz” in der Schriftenreihe des NS-DOK im Emons-Verlag (an der Kasse im Foyer des EL-DE-Hauses erhältlich). Es folgte eine ganze Reihe von Veranstaltungen, die wir im “Interviewstil”, wie Faye es nannte, gemeinsam durchführten. Am liebsten hätte sie davon jede Woche mindestens drei gehabt
  • Das Interview: Innerhalb des Projektes “Erlebte Geschichte” ist ein mehrstündiges Video-Interview mit Faye entstanden, das Dr. Martin Rüther, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des NS-DOK, 2006 geführt hat (eg.nsdok.de).
  • Der Film: Aus einer zufälligen Begegnung mit den Filmemachern Marcel Schleibaum und Steffen Wimmers in einem bekannten Szene-Lokal entstand zwischen 2012 und 2016 der 97minütige Dokumentarfilm “Kölsches Mädchen – Jüdischer Mensch. Die Flucht der Faye Cukier”. Gedreht wurde an den Originalplätzen. In Archiven zum ersten Mal entdeckte Dokumente konnten gefilmt werden. Sie belegen eindrucksvoll die Aussagen von Faye in ihren Erinnerungen. Die DVD ist an der Kasse im EL-DE-Haus erhältlich.
  • Das Junge Museum: Die Biografie von Faye Cukier wird im Rahmen der Erweiterung im EL-DE-Haus im Jungen Museum auf der vierten Etage für Kinder und Jugendliche interessant aufbereitet. Für Faye ist so im EL-DE-Haus eine Art Erinnerungsraum geschaffen worden.

Für Faye war es, wie sie es in einem der Interviews sagte, “das große Anliegen, dass meine Geschichte lebendig bleibt”. Dafür hat sie über viele Jahre sehr viel getan. Und für das NS-Dokumentationszentrum war dies ebenfalls ein großes Anliegen und wird es auch bleiben.

Versprochen, liebe Faye!

 

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